Felix Moscoli
Peter C. Lockemann posiert stolz für ein Portrait.

„Am Anfang war die Maschine“

Deutschlands erste Fakultät für Informatik wurde 1972 in Karlsruhe gegründet. Als einer der Gründungsprofessoren prägte Peter C. Lockemann das junge Fach und dessen institutionellen Rahmen am heutigen KIT mit. Mit clickKIT sprach der 87-Jährige, der von 1979 bis 1981 Dekan der Fakultät war und bis zu seiner Emeritierung 2004 das Institut für Programmstrukturen und Datenorganisation leitete, über die Gründerzeit einer erst noch namenlosen Wissenschaft.

Herr Professor Lockemann, 1972 wurde die Fakultät gegründet. Wie hat alles angefangen?

In den 60er Jahren ging es los in den USA mit der Computer Science. Es gab noch keine PCs oder gar Laptops, sondern nur Großrechner. Und es gab schon einige Programmiersprachen: Fortran für Numerik, die kennt heute kaum noch jemand, COBOL für kommerzielle Datenverarbeitung und kaufmännische Anwendungen. Sie erinnern sich sicher noch an die Jahrtausendwende, als wegen des Millennium-Bugs – der Gefahr von Komplikationen mit der Datumsumstellung in Computersystemen von Banken – Versicherungen und Behörden verzweifelt COBOL-Programmierer suchten. Und schließlich als dritte, eher akademisch angehauchte Sprache, Algol.

Und in Karlsruhe?

Hier hat der Mathematikprofessor Karl Nickel früh erste Vorlesungen dazu initiiert. Auch gab es das Institut für Nachrichtenverarbeitung und -übertragung (heute Institut für Technik der Informationsverarbeitung (ITIV), Anm. d. Red.), wo Karl Steinbuch schon Informatik-Forschung betrieb. Aus der Mathematik und diesem Institut ist das erste Lernangebot hervorgegangen. 1969 ist der Studiengang für Informatik eingerichtet worden. 1972 ist dann die Fakultät für Informatik gegründet worden – als erste in Deutschland!

Wie ging der Übergang von Mathematik und Elektrotechnik zur Informatik vonstatten? Sie selbst sind von Haus aus auch Elektrotechniker.

Ja, und auch Steinbuchs Institut war ein elektrotechnisches. Im Grunde gab es drei Entwicklungsstränge: Die Elektrotechnik, die den Hardware-Teil abdeckte, die Physik, als einer der frühesten Nutzer, und die Mathematik, die versuchte, erste algorithmische Grundlagen zu schaffen.

Was war Ihre Funktion bei Gründung der Fakultät.

Es wurde 1969 ein Institut für Informatik gegründet unter dem Dach der Fakultät für Mathematik. Ab 1971 gab es das Überregionale Forschungsprogramm Informatik, ÜRF. Damit wollte der Bund an den deutschen Universitäten Informatikstudiengänge etablieren und die Forschung stärken. In Karlsruhe wurden neun Forschungsgruppen eingerichtet, um den Boden für die Informatik an sich und für die Ausbildung von Informatikern zu bereiten. Die Leiter dieser Forschungsgruppen wurden vom Land als Professuren ausgewiesen, eine großartige Leistung, denn es bedeutete eine langfristige Verpflichtung, diese zu finanzieren. Die erste Aufgabe bei Gründung der Fakultät war also, diese Professuren zu besetzen. Und zu diesen gehörte ich.

Wo kamen diese Leute denn her? Informatikerinnen und Informatiker gab es ja noch nicht.

Einige kamen aus der Mathematik, andere aus der Elektrotechnik – unter anderem aus dem Institut von Karl Steinbuch –, einige auch von der Technischen Universität München. Ich selbst wurde noch an das erwähnte Institut für Informatik berufen. Dorthin kam ich aus Bonn, davor war ich in den USA gewesen. Seit 1971 gab es bei den Wirtschaftswissenschaftlern im Übrigen auch schon ein Institut für Informatik, das Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren, das noch heute besteht. Das hatte mit uns organisatorisch allerdings nichts zu tun. Wir hatten mit denen immer ein sehr gutes Verhältnis, aber sie waren eben nicht Teil der Fakultät.

Was waren denn Ihre Forschungsgebiete an ihrem Institut?

Ich war für Informationssysteme berufen. Für mich bedeutete das damals Datenbanktechnik.  

Sie haben an der damaligen Technischen Hochschule München Nachrichtentechnik studiert. Wie kam der Sprung in die Informatik?

Ich promovierte 1963 in Elektrotechnik zu Leistungsendstufen von Verstärkern. Da konnte man die Transistoren noch zusammenlöten. (lacht) In München hörte ich erste Vorlesungen zu Themen, die man später als Informatik bezeichnet hätte. Auch gab es dort die „Programmgesteuerte Elektronische Rechenanlage München“, PERM, die in den 1950er Jahren entwickelt wurde und per Maschinencode programmiert wurde. Das war eine Röhrenmaschine, ein richtiges Monstrum. Sie können sie im Deutschen Museum besichtigen.

Als Werkstudent habe ich Kästen voller Röhren verdrahtet. Später haben wir Magnetköpfe für die Trommelspeicher entwickelt. So kam ich mit der Technischen Informatik in Berührung. Nur hieß das damals natürlich nicht so. Den Begriff Informatik gab es ja noch gar nicht. In den USA war ich in einer Forschungsgruppe am Caltech, die sich mit Kybernetik beschäftigte, also der Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise lebender Organismen. Da wurden Messungen an Fliegen gemacht, und die Messdaten mussten ausgewertet werden. So bin ich zum Programmieren gekommen. Dann wechselte ich in eine Gruppe, die schon so etwas wie Datenbanktechnik betrieben hat – mit Anwendungen auf dem Gebiet der Anthropologie.

Es sind also wie auch heute Forschungsdaten in großer Menge angefallen, die man auswerten musste?

Ja! Es gab damals Plattenspeicher, das waren richtige Türme. Später gab es solche mit auswechselbaren Platten. Nach heutigen Maßstäben war die Kapazität lächerlich, aber man konnte schon Einiges speichern. Dafür brauchte man ein systematisches Vorgehen. Wir haben eigene vernetzte Speicherstrukturen entwickelt. Beim Auswerten hatten wir schon damals das Problem, dass wir erstmal die Daten vom langsamen Plattenspeicher in den Hauptspeicher holen mussten.

Was musste man denn damals in der Informatik können? Gab es Unterschiede zu heute?

Die gab es natürlich, aber wenn Sie sich das heutige Grundstudium anschauen, sind sie nicht so groß. Was man sagen kann ist, dass die Fakultät in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens ihr Hauptaugenmerk auf die Entwicklung des Studienprogramms legen musste. Das ruhte auf vier Beinen: Technische Informatik, Theoretische Informatik, Praktische Informatik und ein von den Studierenden zu wählendes Ergänzungsfach.

Die Technische Informatik kümmerte sich um die Hardware, die Theoretische Informatik hatte ihre Schwerpunkte in der Algorithmik und der Automatentheorie sowie Logik. Die Praktische Informatik beschäftigte sich mit der Software. Und schließlich gab es noch Ergänzungsfächer wie Physik, Mathematik, Elektrotechnik oder Wirtschaftswissenschaften. Denn schon damals sollten die Studierenden ein Gefühl dafür entwickeln, wo und wie Informatik anzuwenden war. Gerade der Maschinenbau hat dabei eine große Rolle gespielt. Wir waren also sehr breit aufgestellt. Das hatte Vorbildcharakter für die anderen deutschen Universitäten, die nach und nach auch eigene Informatik-Fakultäten gründeten.

Was hatte es denn mit der Debatte auf sich, ob Informatik eine Erkenntnis- oder eine Ingenieurswissenschaft sei?

Sie drehte sich darum, ob es in der Informatik eher darum geht, Erkenntnisse zu gewinnen und Grundwissen zu schaffen. Oder ob sie eine Ingenieurwissenschaft ist, die sich daran orientiert, Wissen umzusetzen, in Anwendung zu bringen und Systeme zu bauen. Während der 70er-Jahre war das bundesweit eine ständige Diskussion.

Warum war das überhaupt von Belang?

Wenn Sie so wollen, war das eine philosophische Debatte. Sie hatte aber durchaus Auswirkungen auf die Berufungspolitik der einzelnen Einrichtungen. Wir tendierten in Karlsruhe ein wenig zur Ingenieurwissenschaft, aber eine eindeutige Haltung gab es auch innerhalb der Fakultät nicht. Heute ist die Antwort: Sie ist beides.

Gab es anfänglich irgendeine Nachfrage für Informatiker und folglich gleich Studieninteressierte oder mussten sie aktiv Werbung machen?

1969 rekrutierten sich die ersten Studierenden aus einem kleinen Kreis, der sich speziell für diese Materie interessierte. Als Fakultät haben wir uns später schon bemühen müssen, Studierende zu finden. Am Anfang waren es lediglich ein paar hundert und es ging nur langsam aufwärts. Es gab auch – gemessen an heute – noch wenige Anwendungen und zudem musste man den Leuten erst einmal erklären, was Informatik eigentlich ist. Und eine klare Definition ist ja schon fachintern nicht leichtgefallen.

Am Anfang der Entwicklung stand die Maschine, der Rechner als Werkzeug. Damit der läuft, brauchen Sie Software. Dann entdeckte man, dass man auch eine Theorie braucht, weil gar nicht alles berechenbar ist. Oder weil die Komplexität des Problems sehr hoch ist und man wissen muss, ob der Rechenaufwand sublinear, linear, quadratisch oder sogar exponentiell ist. Und wenn Sie sich die damaligen Rechen- und Speicherkapazitäten anschauen, merken Sie, dass Sie bei solchen Fragestellungen schnell ans Ende des Möglichen kommen.

Denken Sie nur an das Travelling Salesman Problem, wo es darum geht, eine möglichst effiziente Reihenfolge für eine Rundreise zu mehreren Orten zu wählen. Dafür haben die Theoretikerinnen und Theoretiker dann Heuristiken entwickelt, um den Aufwand in einem vertretbaren Maß zu halten. Wir Datenbank-Leute hatten hingegen das Problem, dass die ganzen Daten auf dem Hintergrundspeicher lagen. Bis Sie Daten von so einem Plattenspeicher geholt haben, damit Sie sie verarbeiten können, das dauert! Heute ist das praktisch kein Problem mehr, weil wir riesige Hauptspeicher haben.

Wann wurde Ihnen persönlich denn bewusst, dass Sie ein Informatiker sind?

Na, spätestens 1972 (lacht). Zuvor hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber mit meiner Berufung war ich klipp und klar Informatiker. 

Text und Bild: Felix Mescoli

24.11.2022