Lisa Jungheim, KIT
Zwei Studierende stehen an einem Erasmus-Stand und lassen sich beraten.

Die beste Zeit Eures Lebens – seit 35 Jahren

Es ist fast ein bisschen langweilig: Wer am Erasmus-Programm teilnimmt, sagt danach meist dasselbe: „Es war genial!“ und „Es war die beste Zeit meines Lebens!“  Warum? Zeit nachzufragen – und dem erfolgreichsten Programm Europas zum 35. Jubiläum zu gratulieren.

Julian Bowe ahnt es erst nur, aber wahrscheinlich erlebt auch er sie: die (wirklich!) beste Zeit seines Lebens. Der 20-Jährige ist dank des Erasmus-Programms bis Januar an der Universität von Sevilla, in Spanien, eingeschrieben. Ab Februar geht er zum Sommersemester weiter nach Porto im Norden Portugals.

„Ich wollte immer so viel Ausland wie möglich in meinem Studium einbauen, meine Sprachkenntnisse verbessern, andere Kulturen kennenlernen“, erklärt der Maschinenbaustudent, der als deutsch-amerikanisches Kind mit seinen Eltern schon viel um die Welt gezogen. „Mit Erasmus kann ich das. Und weil ich mich zwischen Spanien und Portugal nicht entscheiden konnte, habe ich mich für ein Semester in jedem Land eingeschrieben. Das Programm ist einfach super flexibel.“

Energietechnik und Jam-Sessions

In Sevilla ist er an der Fakultät für Energietechnik eingeschrieben und lernt mehr über Solarenergie und Windkraft. So kann Julian Bowe schon in Themen hineinschnuppern, die ihn für einen Masterstudiengang interessieren. Parallel genießt er das milde Wetter und das spanische Abendleben. Seine Strategie: „Ich habe vormittags immer frei.“ Denn vom vielen Ausgehen bis in die Morgenstunden, Jamsessions und Open-Mics war der Bass-Spieler schon nach ein paar Wochen ziemlich müde.

Ein Leben in einem Jahr

„Ich sage immer: Erasmus ist nicht ein Jahr in einem Leben, sondern ein Leben in einem Jahr“, schwärmt Julia Johnsen. Die Erasmus Hochschulkoordinatorin des KIT freut sich daher umso mehr, dass nach dem „herben Corona-Dämpfer“, die Studierenden wieder problemlos in Europa reisen und studieren können. Die Tore von fast 200 Universitäten stehen ihnen vom KIT aus offen.

Für das Studienjahr 2022/23 ist das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht. Rund 580 Studierende aus dem KIT sind derzeit unterwegs, rund 200 aus anderen europäischen Universitäten dafür ans KIT gekommen.

Regelsätze von bis zu 600 Euro im Monat

Es könnten in beiden Fällen aber mehr sein, so Johnsen. Das Erasmus-Programm sei seit seinem Start im Jahr 1987 viel flexibler geworden. Mittlerweile könnten die Interessierten für nur ein Semester weg, es gebe außerdem Intensivprogramme für diejenigen, die ihr Studium nicht unterbrechen können, und: Es gibt mehr Geld.

Je nach Land und persönlicher Situation beträgt die Unterstützung derzeit zwischen 490 und 600 Euro pro Monat. Hinzukommen spezielle Fördermöglichkeiten, zum Beispiel für Studierende mit Kind, chronischer Krankheit oder aus nicht-akademischem Elternhaus. „Es ist wirklich viel ‚Drive‘ drin“, erklärt Julia Johnsen.

Falsches Image des Spaßprogrammes

Diese Dynamik freut auch Andrea Morlock-Scherm. Die 64-Jährige ist seit kurzem im Ruhestand, gut 20 Jahre lang war die leidenschaftliche Europäerin die „Frau Erasmus“ am KIT und dann an der Fakultät für Maschinenbau.

Als sie 2003 an die damalige Universität Karlsruhe, einer Vorgängereinrichtung des KIT, kam, musste sie nicht nur die Fördersätze mit dem Taschenrechner selber kalkulieren. Problematisch war auch, dass Erasmus-Plätze von den KIT-Fakultäten angeboten wurden, aber zentral niemand davon wusste. „Die Verträge hatten Professorinnen und Professoren auf der Basis ihrer persönlichen Kontakte geschlossen. Ich musste also zu jeder Fakultät und schauen, was los war.“

Mühsam war es auch gegen das Image eines „Spaßprogramms“ anzukämpfen. „Viele dachten, dass nur diejenigen, die einen Doppelabschluss anstreben oder nach Übersee wollen, wirklich Leistung erbringen“ erinnert sie sich. Das habe sich durchaus geändert. Mit den Learning Agreements, die die Studierenden mit ihrer Fakultät am KIT unterschreiben müssen, verpflichten sie sich, inhaltlich etwas zu leisten.

Eine Zeit zum Wachsen

Aber ECTS und Anerkennung hin oder her: Wichtig bleibt auch mal „links und rechts zu schauen“, plädiert Morlock-Scherm. Denn die Zeit im Ausland sei mehr als nur Pauken, es sei „eine Zeit der Horizonterweiterung und des persönlichen Wachsens“.
Julian Bowe, der derzeit noch in Sevilla ist, erlebt es gerade – Flavio Venturelli kann es rückblickend bestätigen. Vor 20 Jahren kam der heute 46-Jährige dank Erasmus von Ancona, in Italien, ans KIT – und wuchs tatsächlich. Eltern weit weg, eine andere Sprache, deutsche Mietverträge, Freunde aus dem ganzen Kontinent, die Begegnung mit seiner Frau: „Mein Erasmus-Jahr hat mein Leben verändert“ sagt er, „es war die beste Zeit meines Lebens.“

Text: Isabelle Hartmann
Foto: Lisa Jungheim, KIT