Gute Frage: Spiegelt der Tatort reale Lebensverhältnisse wieder?
Kaum jemand, der ihn nicht kennt: den Tatort. Für viele ist der sonntägliche Krimi ein fester Bestandteil des Wochenendes. Tatsächlich liefert er aber auch Einblicke in Mentalität und Lebensstil verschiedener Regionen und Zeiten. Stefan Scherer, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, erklärt warum.
Herr Scherer, inwiefern spiegelt der Tatort die realen Lebensverhältnisse in Deutschland wieder?
Im Grunde genommen ist der Tatort ein fortlaufender Gesellschaftsroman, der bis heute jeden Sonntag um 20:15 Uhr bis zu 13 Millionen Menschen in den Bann zieht und dann am Montagmorgen Gesprächsstoff für Büropausen, Medienkolumnen und soziale Netzwerke liefert. Seit 1970 und damit seit bald 55 Jahren läuft die Krimireihe, von der mittlerweile über 1 300 Folgen ausgestrahlt wurden, in der ARD.
Der Tatort ist einzigartig in der deutschen Fernsehlandschaft, da die Reihe Quoten erzielt, die nur noch von großen Sportereignissen übertroffen werden. Dabei erreicht sie sämtliche Generationen und rekrutiert somit immer wieder auch jüngere Zuschauende, die sich dem Krimi auch gerne beim Public Viewing in Kneipen oder im Kino hingeben.
Insbesondere spiegelt der Tatort gesellschaftliche Entwicklungen und regionale Lebensverhältnisse der letzten 50 Jahre wider. Einzigartig macht ihn dabei vor allem seine föderalistische Struktur: Jeder Sender der ARD steuert eine oder mehrere Serien bei, die oft auch regional geprägt sind. Indem man neue Serien einführt, werden immer wieder neue Konzepte erprobt und durchgespielt, in denen sich Mentalität und Lebensstil der jeweiligen Zeit und Region widerspiegeln. Im Laufe der Zeit ist die Reihe vielfältiger und experimenteller geworden. Was die Bildästhetik betrifft, nähern sich viele Folgen seit den 1990er-Jahren dem Spielfilm an.
Der Wandel der Reihe im Kontext der Zeit lässt sich besonders gut an den Ermittlern in den Tatort-Serien des WDR erkennen: vom bundesweit und im angrenzenden Ausland ermittelnden Zolloberinspektor Kressin als James-Bond-Parodie über den nüchternen Essener Kommissar Haferkamp, der die Kanzler-Ära Schmidt widerspiegelte, sowie den fluchenden und sich prügelnden Duisburger Kommissar Schimanski bis hin zum Duo Thiel und Boerne in Münster, das komödiantische Elemente in die Krimireihe einbringt.
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Zur Person:
Professor Stefan Scherer untersucht am Department für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft des KIT, wie die ARD-Krimireihe soziale Entwicklungen und regionale Lebensverhältnisse widerspiegelt. Dazu analysierte er Hunderte von Folgen. Zudem ist er wissenschaftlicher Leiter des Schreiblabors am House of Competence und Leiter des Studiengangs Lehramt Deutsch am KIT.